Am letzten Tag unseres Urlaubs in Kappeln passierte dann das, was ich aus der Sicht eines Geschwisterkindes mit 6 Jahren im Urlaub mit meinen Eltern erlebte: Ein Kind verschwand spurlos.
Mein Bruder war damals 2 Jahre alt und ich erinnere mich noch gut, wie aufgeregt meine Eltern waren und wie sie nach und nach hektischer wurden, als sie ihn nicht wiederfanden. Schlussendlich saß er bei den Rettungsschwimmern im Häuschen auf einer Bank: Schwimmflügeln an den Armen, Eimer und Schaufel in den kleinen Händen und schaukelte vergnügt mit den Beinen. Die Rettungsschwimmer hatten eine Durchsage per Lautsprecher gemacht und der Schreck ein schnelles Ende. Jedes Jahr im Urlaub kam diese Geschichte erneut auf den Tisch: „Weisst Du noch damals, als der Sohn/ Bruder direkt am ersten Tag am Strand verloren ging?“
Doch zurück zu unserem letzten Tag:
Zuerst hatte ich den Buben (wie so oft) sich etwas oberhalb von unserem Handtuchlager im Sand wälzen sehen (wie er es gerne machte), doch plötzlich war er weg, als ich mich das nächste Mal zu ihm umdrehte!
Schnell stiefelte der Mann los und suchte im Umkreis unseres Lagers und vor allem hinter den zahlreichen Strandmuscheln und Bollerwagen nach ihm: nichts.
Er vergrösserte seine Kreise, rief lauter nach ihm, während ich versuchte, die beiden Mädels bei mir zu halten. Vor allem die June machte albernen Spökes und wollte dem Papa hinterher, während mein Herz schon ein wenig schneller schlug. Unsere Liegenachbarn rechts wie auch links boten nach kurzer Zeit ihre Hilfe an und suchten mit, wofür ich ihnen heute noch dankbar bin. Endlose Minuten verstrichen und ich versuchte mich zu beruhigen: „Gleich ist er wieder da. Hinter irgendeiner Strandmuschel wird er auftauchen. Oder am Volleyballfeld sitzen. Oder oder oder…“
Inzwischen hatte der Mann den Parkplatz ins Visier genommen und ich starrte immer wieder auf mein Handy, denn alle Kinder trugen den Urlaub hindurch ihre Sicherheitsarmbänder mit Name, Geburtsdatum und unseren Handynummern. Doch es klingelte einfach nicht. Es blieb stumm.
So langsam wurde ich unruhig und wollte die DLRG einschalten, sobald der Mann wieder aufgetaucht war. Solange suchte ich wieder und wieder den Uferbereich und den Sand um uns herum mit den Augen nach dem Buben ab. Ich hatte immer noch das Gefühl, es würde sich bestimmt gleich alles aufklären. Gleich… bestimmt… nur nicht das Schlimmste denken! Er ist absoluter Nichtschwimmer, hat keine Schwimmflügel an, aber er liebt das Wasser! Nein, nein, ohne uns in Sichtweite wird er nicht ins Wasser gehen, oder?! Oder doch?
Mein Herz bumperte nun wirklich laut…
Endlich, nach quälend langen Minuten mit schmerzenden Armen vom Halten der Jüngsten und einem Knoten in der Magengegend kam die Tochter der Liegenachbarn herangelaufen, ihre Mutter habe unseren Sohn gefunden! Mir fiel ein Felsbrocken von Herzen, hatten sich in meinem Kopf schon viele Szenen abgespielt, deren Ausgang nie gut war.
Der Bub hatte es bis zum Sportabschnitt des Strandes „geschafft“ und war dort ziellos umher gelaufen. Da er nicht geweint hatte, wurde er wohl auch nicht angesprochen. Er selbst hatte allerdings auch vergessen, dass er das Armband trug und niemanden um Hilfe gebeten.
Erst später, als wir heimfuhren und auch noch am Abend, da war er ganz stumm und traurig; sozusagen mit Zeitverzögerung setzte seine Angst ein.
Beim Überqueren der Düne Richtung Parkplatz sprach uns noch ein Mitarbeiter von der DLRG an, ob wir die Familie des verschwundenen Jungen seien. Die Jungs (und auch Mädels) in Rot hatten wohl doch schon davon gehört und mitgesucht. Mir war es sehr unangenehm, dass der Bub wieder aufgetaucht war und sie noch nichts davon wissen konnten und ich entschuldigte mich, was aber mit dem ganzen Tross an Kindern und einem etwas verqueren Bub nicht so einfach war. Über Funk wurde dann ganz schnell Entwarnung gegeben und wir konnten erleichtert zum Abendessen fahren.
Was für ein Schreck, aber mit gutem Ende!
Nun macht sich endlich ein kleines Dankeschön auf die Reise: Der Bub hat den Strand gemalt und ich eine kleine Karte geschrieben, dazu gibt es ein paar Gummibärchen in Form von Schwebebahnen. Wir hoffen, es erreicht die richtigen Hände.
Passt auf Euch auf, ja?
Und redet mit den Kindern, was im Fall der Fälle zu tun ist. Sprecht andere auf Hilfe an, wie auch bei Tollabea schon zu lesen war. Wir hatten uns zu sehr darauf konzentriert, dass die Kinder nicht ohne Schwimmflügel und auch nicht ohne Begleitung ins Wasser gehen; wir sind täglich eben diese Strandregeln durchgegangen, aber haben dem Verlaufen und Verlorengehen viel zu wenig Bedeutung beigemessen.